Reichsverfassung von 1871(-1918)

q Konstitutionelle Monarchie im Gegensatz zur parlamentarischen Monarchie wie in England:

D.h. Regierung (Reichskanzler!) nicht von Mehrheit des RT abhängig, vielmehr Ernennung und Absetzung allein durch Kaiser ohne Beteiligung des Reichstages (im Gegensatz zur parlamentarischen Monarchie à la England, wo die Regierung aus dem Parlament hervorgeht).

Auch kein unmittelbarer Einfluss auf die Außenpolitik, da alle Verträge, die nicht Reichsgesetze berührten d.h. also bes. Bündnisverträge, nicht der Zustimmung des Reichstags bedurften; übrigens auch keine parlamentarische Kontrolle des Militärs (der einzige Einfluss des Reichstags war hier die alle 7 Jahre stattfindende Verabschiedung des Militärbudgets).

Die Abgeordnetenkarriere endete also im RT, kein Aufstieg der Abgeordneten (wie im parlamentarischen System) in die 'Schaltzentralen der Macht’.) (Vgl. Anmerkung weiter unten zu "Auswirkung / Langzeiteffekt" *.) 

q Auf der anderen Seite hat der RT – zusammen (gleichgewichtig) mit dem Bundesrat - die Legislative und - vor allem wichtig - das Budgetrecht (Entscheidung über Finanzierung der Politik - wie? <also z.B. welche Steuern?> wieviel? wofür?) inne; beim Militär allerdings, wie gesagt, nur in mehrjährigen Abständen.
Er hat also zwar nicht selber den Zugang zur Machtausübung, aber er hat die Entscheidung über den gesetzlichen und finanziellen Rahmen, in dem Politik gemacht, Macht ausgeübt wird = kein geringes Recht! Alle großen innenpolitischen Entscheidungen im Kaiserreich gingen über Mehrheitsentscheidungen des Reichstags. [Folglich, wie im Kurs von Matthias richtig gesagt wurde, war Kanzler also doch von Reichstagsmehrheit abhängig, da er ohne sie keine Gesetzesvorhaben hätte durchbringen können und politischer Stillstand eingetreten wäre.]

Ferner wäre zu denken an das Prinzip, dass der Kanzler seine Politik vor dem RT vertreten, d.h. sich der parlamentarischen Diskussion stellen musste ['Kanzlerverantwortlichkeit']; die großen politischen Sachdebatten (die zu den Highlights der deutschen Parlaments-geschichte gehören!) fanden im Kaiserreich im RT statt. 

Dies - aber auch die im Vergleich mit anderen Ländern relativ ‘demokratische’ Legitimierung durch allgemeines, gleiches, direktes, geheimes Wahlrecht - mit der Grund dafür, dass der RT in der Verfassungswirklichkeit und im Bewusstsein der Öffentlichkeit zunehmend dem Bundesrat (der nur rein theoretisch das gewichtigere Organ war) den Rang ablief.  

Die eigentliche Polarität war: Kaiser - Reichstag! [Außerdem saßen im Bundesrat nicht einfach die Vertreter der Einzelfürsten, sondern der Einzelstaaten, die alle Verfassungsstaaten waren.]

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*) Auswirkung I Langzeiteffekt

è Führte bei manchen zu Geringschätzung des RT [bloßer ‚Diskussionsklub’ - stimmt aber nicht, es war ja nicht allein 'Diskussion’, sondern.... siehe oben!] sowie zum Eindruck: das eigentliche Rückgrat des Staates seien Kaiser und Armee - wozu auch die Tatsache beitrug, dass die Reichsgründung auf der Basis zweier gewonnener Kriege <1866 und 1871> erfolgte, wobei die meisten vergaßen, dass ja nicht nur die militärische Leistung, sondern ganz wesentlich das außenpolitische Geschick Bismarcks und auch seine geschickte Behandlung der süddeutschen Staaten die Reichsgründung ermöglicht hatte. 

è Konstitutioneller Verfassungstyp [also: Regierung wird vom Kaiser ernannt, geht nicht aus dem Parlament hervor] zwingt nicht, wie im parlamentarischen System, die Parteien sich zu Regierungskoalitionen 'zusammenzuraufen’ und sich im politischen Kompromiss zu üben, vielmehr konnte jede Partei ohne Gefahr für die Regierungsfähigkeit ihr interessenmäßiges oder ideologisches Steckenpferd reiten.

(è in der Weimarer Republik war mangelnde Kompromissfähigkeit der Parteien und Parteizersplitterung eine wichtige Mitursache für das Scheitern der WR)